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Das Körperarchiv

nicole pruckermayr, 2016

Koerperarchiv Detail
Foto:Nikolaos Zachariadis

Unsere Sicht auf den Körper ist eine Konstruktion. Körpervorstellungen sind weder über die Welt hinweg homogen, noch zeitlich stabil. Naturwissenschaftliche und kulturwissenschaftliche Erkenntnisse verändern Sichtweisen auf den Körper und damit auf die alltägliche Auseinander­setzung mit ihm. Unser Wissen um Vergänglichkeit, Normalität, Schönheit, Krankheit, Leistungs­fähigkeit,... ist von medizinischen Errungenschaften genauso abhängig, wie vom Zeitgeist. Wir bestehen aus biologischen Grundgegebenheiten, die die Eigensicht stark definieren, allerdings sind unsere Körper mittlerweile auch Grenzgänger, sie sind Cyborgs, so die Naturwissenschafts­historikerin Donna Haraway. Technische Erweiterungen sind fixe Bestandteile unserer Identitäten geworden, genauso wie es mittlerweile möglich ist, sich das eigene Geschlecht nach eigenen Vorlieben umzugestalten. Gleichzeitig entwickeln sich menschliche Körper auch durch das Erler­nen und Aneignen von Techniken des Gebrauchs, wie der Ethnologe Marcel Mauss beschrieb. Gesellschaftliche soziale Normen und der Ausdruck des Körpers, Gewohnheiten von Kulturen oder Familien werden weitergegeben und kultiviert. Diese angelernten Techniken sind nicht bio­logisch determiniert, sondern werden von Generation zu Generation weitergegeben, mit dem jeweiligen Gebrauch und den Möglichkeiten des individuellen Körpers.
Im medizinischen Bereich, aber auch am Sektor Schönheit werden Adaptierungen und Straffun­gen vorgenommen, die zum normierten Glücklichsein verhelfen sollen. Normal ist immer das, was eine Gesellschaft gemeinsam definiert, und jede Person arbeitet mit ihrem Handeln an der Normalisierungsmacht mit, ob sie will oder nicht. Gerade was als Normalität des Körpers gilt wird kontinuierlich umgeschrieben, und hier verbirgt sich auch die Chance, um für eine egalitäre Gesellschaft einzustehen.
Der Umfang des Körperarchivs (vor dem Start der ausstellung Mittendrin) bestand aus einer Sammlung an Körpergeschichten, der Essenz aus 12 Tiefeninterviews. Die befragten Personen waren der Künstlerin bekannte, aber auch fremde Personen zwischen 20 und 60 Jahren. Sie haben keine offensichtliche Beeinträchti­gung. Jede Person konnte sich jeweils ein Körperteil aussuchen, zu dem sie eine tiefere Bindung hat: Denn immer gibt es Teile des Körpers, die uns näher und lieber sind als andere. Sie stehen hier im Fokus.

Das Körperarchiv beschäftigt sich mit subjektiver Körperwahrnehmung: Wie gehen wir mit uns um, mit unserem Körper, aber auch mit anderen? Durch die Konzentration auf Teilbereiche, die in einem besonderen „Naheverhältnis“ zu uns stehen, wird eine vertiefte Auseinandersetzung erreicht. Es geht nicht darum, psychoanalytische Theorien aufzustellen, sondern persönliche Zu­gänge zum eigenen Körper nachzuzeichnen, etwas über Lebensweise zu erfahren, Stellenwerte auszuloten. Gleichzeitig ist mir auch der Blick von Außen sehr wichtig, von Außen auf diese körperliche Stelle. Der ganze Körper ist ein zu weites Gebiet, um ihn genügend würdigen zu können.
Folgende Fragen wurden an alle Beteiligten gestellt:
> Welcher Körperteil hat für Sie die größte Bedeutung?
> Möchten Sie die spezielle Geschichte erzählen, warum dieser Körperteil so wichtig ist für Sie? Wenn ja, erzählen Sie bitte. Wenn nein, versuchen Sie dennoch zu argumentieren, warum gerade dieser Körperteil so relevant für Sie ist.
> Hat sich durch bestimmte Untersuchungsmethoden (Röntgen, Ultraschall,...) der Blick auf diesen Körperteil verändert? Können Sie sich mit z.B. der Röntgenaufnahmen des eigenen Körpers identifizieren?
> Was denken Sie darüber, wie sich dieser Körperteil verändern wird/verändert hat?
> Haben Sie ausgehend von Ihrem gewählten Teil des eigenen Körpers auch einen starken Bezug zu diesem Körperteil bei anderen?
Der Körper wurde mit wenigen Ausnahmen als vernachlässigbare Konstante betrachtet, dem erst bei nicht-Funktionieren Aufmerksamkeit geschenkt wird. Krankheit und Beschwerlichkeit sind oft ein Thema, obwohl äußere Anlässe akut nicht gegeben sind. Aber auch als bereichernd, wandlungsfähig oder schön werden Teile des Körpers verstanden. Allerdings ist die Gesamtzu­friedenheit mit dem eigenen Erscheinungsbild nicht sehr hoch. Eigen- und Fremdbild klaffen oft weit auseinander.
Interessant in diesem Zusammenhang ist auch, dass rund zwei Drittel der befragten Personen Untersuchungsergebnisse wie Röntgenbilder, aber auch Zahlenreihen oder Kurven jeglicher Art (Visiotype) als sehr abstrakt empfinden und kaum mit ihrem körperlichen Erleben in Verbindung bringen. Nichtsdestoweniger verändert sich aber der Blick aller Befragten durch vor allem me­dizinisch-technische Abbildungen, wie Magnetresonanz, Röntgenbilder oder Ultraschallaufnah­men. Das Innere des Körpers wird zum Versatzwerk, die Teile haben kaum etwas miteinander gemeinsam, Organe werden fast schon als Solitäre wahrgenommen, weil sie durch Bildmaterial und auch das Sprechen darüber als solche vermittelt werden. Diese mechanistische Sicht auf den Körper fördert aber die Selbstsicht als makelhafte Wesen.

Koerperarchiv Detail

Foto: Nikolaos Zachariadis

Im Körperarchiv werden die Geschichten zu liebgewonnenen Körperflecken gesammelt und mit­einander geteilt um so eine neue, möglicherweise entspanntere Körperwahrnehmung zu bekom­men. Drei Personen ohne Beeinträchtigung zwischen 20 und 60 Jahren beginnen mit der Erzäh­lung ihrer Körpergeschichten über Haare, Zähne und den Rücken. Sie bilden den Ausgangspunkt für die nunmehrige Öffnung der Befragung an alle, die die Ausstellung MITTENDRIN besuchen und ihre Geschichten über Teile des Körpers mit anderen teilen wollen.
Die Künstlerin schreibt im Verlauf der Ausstel­lungsdauer ausgewählte Passagen aus den Beiträgen mit Einzelbuchstaben auf Post-Its. Diese werden zunehmend das Gewölbe des Museums mit einer metaphorischen Haut überziehen.

Speziellen Dank an: Astrid Kury / gesamtes Team der Akademie Graz, Sibylle Dienesch / gesamtes Team des GrazMuseums, Sabina Hörtner, Alexandra Brückner, Alisa Mozigemba
"Kurzvideo vom Schreiben auf die Wand":https://www.instagram.com/p/BQDP-MED7Hp/?taken-by=grazmuseum&hl=de

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